Dr. Cristina Barth Frazzetta
Co-Founder & COO
Vielleicht kennst du das: Du öffnest eine Packung Bio-Eier und findest darin zwei oder drei Eier, an denen feine Daunenfederchen kleben. Wenn du das siehst, hast du vielleicht auf einmal ein ähnliches Gefühl wie damals, als du noch klein warst und mit deinen Eltern einmal direkt bei einem Kleinbauern Eier gekauft hast... Und du durftest dort womöglich selbst mit in den Hühnerstall, wo es nach sonnenwarmem Holz, nach Stroh und scharfem Hühnerkot roch, wo durch die Latten des Verschlags ein gebündelter Sonnenstrahl fiel, in dem Staubkörnchen tanzten und wo von der niedrigen Decke Spinnweben hingen? In einem der Nester brütete dösend ein Huhn. Du wurdest von der Bäuerin ermuntert, ruhig in die anderen Nester hineinzugreifen – und da fühltest du es: ein noch warmes, perfektes Ei in deiner Hand! Es war ein bisschen schmutzig und es klebten ein paar Strohstückchen und sogar ein Federchen daran.
Die Eier, die du heute in der Packung kaufst, sind aber eben nicht das, sondern nur etwas „Ähnliches“. Selbst wenn du nie in einem Hühnerstall warst: Es fehlt nicht nur das Drumherum, es fehlen auch die Reste von Kot, Blut oder Eigelb, derentwegen die Federchen ursprünglich (damals wie heute) am Ei kleben bleiben. Heute werden die Eier zunächst blitzsauber gewaschen und das Federchen wird später wieder hinzugefügt. So halten wir ein Derivat oder gar Surrogat der echten Sinnlichkeit in den Händen, das eben auch im übertragenen Sinne bereinigt wurde.
Gerüche und Geschmäcker werden Lebensmitteln beigemischt, Bauernhof-Atmosphäre wird nachgebaut, Produkte wirken wie von Mutterhand nach altem Hausrezept erstellt und doch sind sie es eben nicht, sie bedienen vielmehr nur eine Sehnsucht: die Sehnsucht nach dem Erleben. Genau dieses Er-Leben wird uns damit aber ab- oder sogar weggenommen.
Die deutsche Sprache hat großartige Vorsilben – mit wenigen Buchstaben vermitteln sie ganze Bedeutungszusammenhänge. Die Vorsilbe „er-“ drückt unter anderem Aktivität und Bewegung im Sinne von Veränderungsprozessen aus. Das macht schnell klar, wieso sich „erleben“ schlecht an einen Dienstleister delegieren lässt, der das Erlebnis dann fertig von außen an uns liefert: Es handelt sich dann immer nur um Abbildungen von Erlebnissen.
Besonders perfide ist daran, dass diese Abbildungen das Sehnen nach dem echten Erlebnis niemals wirklich stillen, sodass eine Art Dauersehnsucht anstelle der echten Bedürfnisbefriedigung tritt, die äußerst lukrativ ist. Denn solange der eigentliche Wunsch nicht erfüllt ist, lassen sich mit diesem Versprechen immer wieder neue Produkte vermarkten.
Erlebnisparks (selbst ganze Städte, wie Venedig, oder sogar die Alpen sind zum Teil schon dazu umfunktioniert), Einkaufserlebnisse, Geschmackserlebnisse, all das verspricht etwas, das eigentlich nur in uns selbst und aus uns heraus durch sinnliche Wahrnehmung stattfinden kann: Unsere Sinne sind unsere Verbindung zum Leben.
Wenn eine Managerin oder ein Manager ein Orientierungs-Coaching in Anspruch nimmt, weil er/sie für sich die nagenden Fragen „Mache ich das Richtige – War es das, was ich immer wollte – Was soll noch kommen?“ klären will, lasse ich mir daher immer die Sehnsüchte schildern. Ich frage zum Beispiel: „Wie sähe Ihr Leben aus, wenn alle Ihre Wünsche erfüllt wären?“ Meistens kommen dann schöne, aber auf den ersten Blick stereotype Bilder. So kommt es nicht selten vor, dass jemand antwortet: „Ich hätte gern ein großes Haus am Meer …“
Leider wissen wir alle jedoch von vielen Menschen, deren äußerer Erfolg ein solches Haus gebracht hat, dass deren Sehnsucht und Getriebenheit damit nicht aufhörte. Es könnte also durchaus passieren, dass jemand all seine Zeit und Kraft darauf verwendet, sich ein Haus am Meer leisten zu können und dann, wenn er es hat, doch nicht das Empfinden hat, angekommen zu sein. Der Grund dafür ist, dass es nicht um die Verwirklichung des Bildes geht – das gaukelt uns die Warenwelt ununterbrochen vor – sondern um die Qualität, die damit verbunden wird.
Lasst uns bei dem Beispiel „Haus am Meer“ bleiben: Was verbindet die spezielle Person, die den Wunsch ausspricht, damit? Sucht sie Ruhe und Rückzug? Oder gerade Kontakt und viel Besuch? Sieht sie sich mit Kindern spielen oder will sie Freiraum haben, um Musik zu machen? Sucht sie am Meer Inspiration für ihre Kreativität oder liebt sie Wassersport? Ist es vielleicht generell ein Wunsch nach Freiheit oder geht es eher um Luxus und Überfluss?
Oft bin ich selbst über die Antworten erstaunt, weil ich – hätte ich nicht gefragt – etwas ganz anderes unterstellt hätte. Aber auch die KlientInnen sind oft erstaunt, weil sie schnell merken, dass es dabei um etwas geht, das ihnen sehr wichtig ist und dass sie es dennoch auf dieses Bild verschieben, anstatt es hier und heute zu suchen.
In einem meiner Kurse bat ich die Teilnehmenden einmal, mir so einen richtig großen Wunsch zu nennen – etwas, das sie sich zu gern leisten würden. Eine junge Managerin antwortete wie aus der Pistole geschossen mit dem Markennamen und der Typenbezeichnung eines sehr schnellen, sehr eleganten und sehr teuren Autos. Ich bat daraufhin alle, aufzuschreiben, was sie mit diesem Auto verbinden. Es kamen Antworten wie „Stil“, „Sport“ und „Luxus“. Die junge Frau selbst sagte: „Freiheit“, und begann im selben Moment zu weinen. Es stellte sich heraus, dass sie zu diesem Zeitpunkt in einer vollkommen verstrickten Situation lebte, die sie komplett lähmte. Ihr wurde augenblicklich klar, dass die Qualität Freiheit in ihrem jetzigen Leben so gut wie gar nicht vorkam und dass, selbst wenn sie das Auto an diesem Tag geschenkt bekäme, sie deshalb noch immer nicht frei wäre.
Die junge Managerin hat danach übrigens innerhalb eines Jahres die Firma und den Wohnort gewechselt und die Qualität Freiheit wieder in ihr aktuelles Leben geholt. So musste sie sie nicht mehr auf den Zeitpunkt verschieben, an dem sie sich endlich das teure Auto leisten kann.
Die Sinne, die uns Rückmeldung zu den jeweiligen Qualitäten geben, wahrzunehmen, erfordert eine introspektive Haltung. Damit diese aber nun nicht zur reinen Nabelschau gerät, braucht es immer auch den zweiten Teil: die Observation.
Observation bedeutet auf Deutsch Beobachtung, auch Überwachung. Es sind wieder zwei Wörter unserer Sprache, die, wenn wir genau hinhören, die erforderliche Haltung klar beschreiben: Man soll wach und „achtsam“ sein und die Sache von einem erhöhten Standort aus als Ganzes sehen. Das ist ein stiller, ein abwartender Vorgang, verbunden mit der Bereitschaft, das Wesen einer Sache zu erkennen, wenn es sich zeigt.
Hier wird noch deutlicher, dass die heute üblichen Formen von Dauerbeschäftigung, sei es mit Arbeitsthemen oder im Bereich von Social Media und Informationsüberflutung, vor allem eines bewirken: eine ausgeprägte Seelenblindheit. Leider kann uns davor niemand außer uns selbst schützen, denn wir müssen bewusst gegensteuern, was schwerfällt, wenn sich die gesamte Umgebung anders verhält und wir schon aus beruflichen Gründen täglich mit der „suchterzeugenden Substanz“, in Kontakt kommen müssen.
Du kannst dir das in etwa so vorstellen, als wärst du gewohnt, abends regelmäßig ein bis zwei Gläschen Wein zu trinken und wüsstest aber gar nicht, dass Alkohol eine Droge ist. Alle anderen wissen es auch nicht. Schließlich findest du das aber heraus und deshalb möchtest du dir zumindest immer wieder einmal beweisen, dass du nicht süchtig bist und nimmst dir vor, eine Pause einzulegen. Deine Umgebung findet das aber absolut lächerlich, denn du bist ja einer der ganz wenigen Menschen, der das herausgefunden hat. Deine Partnerin oder Partner und alle Freunde trinken mittags schon mal ein Bier, am Nachmittag einen Aperitif und bei Tisch Wein und zum Schluss noch einen Digestif. Alle fordern dich auf, mit ihnen anzustoßen, und finden deine Ablehnung ziemlich spießig … und das Schlimmste: In allen Speisen versteckt sich Alkohol – in der Suppe ein Cognac, in der Soße Rotwein und im Nachtisch ein Likör. Du bräuchtest dann schon sehr viel Standfestigkeit und Achtsamkeit, um den Alkoholverzicht durchzuhalten.
Die mediale Verführung zur Ablenkung vom Wesentlichen ist jedoch um vieles größer. Wir sind alle stets der Gefahr ausgesetzt, uns davon gefangen nehmen zu lassen, zumal wir das Internet nutzen müssen und schließlich andererseits ohne Zweifel auch großen Nutzen daraus ziehen.
Von Zeit zu Zeit ist daher eine Introspektion bei gleichzeitig beobachtender Haltung umso mehr unabdingbar, wenn wir erspüren wollen, was uns in unserem Leben wirklich wichtig ist, was uns nährt und glücklich macht und uns letztlich zu unserem persönlichen Ziel führt.
Das Leben hat nur ganz genau so viel Sinn, als wir selbst ihm zu geben imstande sind*
Wenn wir also auf unserem Lebensweg die Orientierung behalten und Erfüllung finden wollen, gilt es zuallererst, den eigenen Kompass zu justieren. Das geschieht, indem wir uns tiefergehend damit auseinandersetzen, was für uns das Wesentliche ist. Zum Beispiel auf welchen Werten das Zusammenleben und Zusammenarbeiten mit anderen Menschen für uns basieren soll und welche Qualitäten für uns ganz persönlich ein glückliches Leben ausmachen.
Haben wir diese Fragen einmal ernsthaft geklärt und nehmen die Antworten als Kriterien, um eine Wahl zu treffen oder eine wichtige Entscheidung zu fällen, dann wird das Ergebnis unsere ganz persönliche Wahl oder Entscheidung sein, die nicht durch Trends oder Influencer getriggert wurde. Unmerklich füllt sich so unser Leben nach und nach mit dem Sinn, den wir ihm geben und fühlt sich schon jetzt erfüllt an.
Natürlich sind auch die großen Lebensträume oder Visionen Teil dieser Kompass-Justierung, aber sie geben tatsächlich nur die grobe Richtung vor. Sie können erreicht werden, sie können sich aber auch ändern, sie können unerreichbar bleiben, sich zerschlagen – all das spielt weniger eine Rolle als die Erfüllung der eigenen Werte und Qualitäten im Hier und Jetzt.
Typischerweise kommen die großen Lebensfragen an bestimmten Scheitelpunkten oder auch Krisen von selbst zu uns. Zum Beispiel schon zum ersten Mal in der Pubertät, der ersten Selbstfindungskrise oder auch in der Lebensmitte, der sogenannten Midlife-Crisis, dem ersten Résumé und dem Bewusstwerden der eigenen Endlichkeit.
Das Wort Krise hat in unserem Kulturkreis jedoch einen abfälligen Beigeschmack und verleitet uns deshalb dazu, dieses vitale Warn-Signal zu ignorieren, anstatt es produktiv zu nutzen!
„Krisis“ bedeutet ursprünglich Scheitelpunkt oder auch (göttliche) Entscheidung. So verstanden heißt das, dass wir an einer wichtigen Lebensweg-Kreuzung angekommen sind, an der wir ohne eine bewusste Wahl womöglich die Richtung verlieren!
Krisen oder Orientierungslosigkeit treten allerdings auch ganz unerwartet zu jeder Zeit im Leben auf und dann ist es gut, wenn wir Unterstützung haben. Praktische Unterstützung durch unser persönliches Netzwerk, aber auch neutrale Unterstützung bei der Situations-Reflexion und Lösungsfindung. Nicht selten wird eine Krise dann sprichwörtlich zur Chance das eigene Lebens-Projekt „Erfüllung finden“ stärker in den Blick zu nehmen.
Im Leben Erfüllung zu finden ist keine Sache, die in der Zukunft beginnt, wenn bestimmte äußere Dinge geschafft sind. Es ist vielmehr ein Projekt, das heute startet. Dazu brauchst du Klarheit über deine eigenen Werte und die Qualitäten, die dir persönlich glückliche Momente bescheren. Unser modernes Leben lenkt uns ständig davon ab. Es verführt uns dazu, zu vergleichen und weckt ständig neue, unnötige Bedürfnisse. Ein Orientierungs-Coaching, wie wir es in unserer crimalin Life Orientation & Navigation Journey anbieten (https://www.crimalin.com/journeys/life-orientation-navigation), ist daher ein sehr wirksames Instrument, um deinen eigenen Kompass zu justieren und gute Entscheidungen für dich selbst zu fällen.
* Zitat Hermann Hesse: „Wir verlangen, das Leben müsse einen Sinn haben - aber es hat nur ganz genau so viel Sinn, als wir selbst ihm zu geben imstande sind.“
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